Bürgerliche Bohème (German Edition) by Oscar A. H. Schmitz
Autor:Oscar A. H. Schmitz [Schmitz, Oscar A. H.]
Die sprache: de
Format: azw
veröffentlicht: 2011-04-12T16:00:00+00:00
29
Kurz vor Weihnachten wurde die Korrespondenz der Geschwister mit der Großmutter etwas lebhafter als sonst. Diese erwartete, ihre Enkel zum Feste zu Hause zu sehen. Ein zärtlicher Brief Erichs an Amélie verriet denselben Wunsch. Hermann und Amélie saßen im »Tirol« allein beim Frühstück, als die Briefe ankamen. Amélie schaute Hermann an und fragte:
»Wirst du reisen? Ich habe nämlich gar keine Lust.«
»Ich auch nicht,« erwidert« Hermann. »Was sollen wir daheim? Dort finden wir doch kein Verständnis.«
Amélie schwieg eine Zeitlang, dann fühlte sie plötzlich in sich die Tränen aufsteigen, sie legte den Kopf über die Arme auf den Tisch und sagte:
»Ist das nicht eigentlich schrecklich, Hermann, Weihnachten in der Fremde zu verbringen?«
»Dann fahr doch heim,« sagte Hermann unwirsch.
»Wie häßlich du heute wieder bist, du weißt doch, daß das nicht geht.«
»Gott, schließlich ginge es ja, du kannst doch ohne mich reisen.«
»Dann fragen sie mich nach allem möglichen aus und die Geschichte mit Erich fängt wieder an; ich bin froh, wenn ich nichts davon höre. Was soll ich ihnen denn sagen? Hier ist ja auch in der letzten Zeit gar nichts mehr los gewesen. Im Sommer konnte man doch allerlei erzählen und dadurch über die leeren Stunden hinauskommen. Aber jetzt? Jetzt gibt's auch das nicht mehr.«
Diese Unentschiedenheit wurde bald dadurch gelöst, daß die Geschwister aufgefordert wurden, an einem kleinen Weihnachtsausflug ins Gebirge teilzunehmen, den einige der Gäste, die ins »Tirol« kamen, veranstalteten. Sofort stand nun in beiden der Entschluß fest, mit großer Entschiedenheit die Einladung nach Hause abzulehnen. Hermann schrieb der Großmutter, ihre künstlerische Entwicklung erlaube ihnen in diesem Augenblick keine Unterbrechung; Amélie teilte Erich mit, sie sei gerade in einem Uebergangszustand, in dem sie allerlei innerlich auszukämpfen habe, das würde durch ein Wiedersehen nur gestört. Und dabei blieb es.
Es war eine Schar von fünf oder sechs jungen Leuten, die am Mittag des vierundzwanzigsten Dezember ins Gebirge zog, darunter die Geschwister und Anne-Marie Hösgen. Sie fuhren bis Kufstein, das sie, unter dem dunkelblauen Sternenhimmel wie eingefroren in harten Schnee, erreichten. In der warmen Wirtsstube war es abends sehr behaglich. Neben dem burgartigen Kachelofen stand ein riesiger Weihnachtsbaum, dessen Lichter um neun Uhr angezündet wurden. Ein Orchestrion spielte: »Stille Nacht, heilige Nacht...« Man trank Punsch, und einige erhabene Bemerkungen über die Abgebrauchtheit der alten Weihnachtssentimentalität und die Familienduselei, die an diesem Feste Orgien feiere, fielen von Anne-Maries Lippen. Auch Hermann war groß im Vertreten dieses Standpunktes. Amélie saß dabei und zwang sich zur Heiterkeit. In ihrem Innern jedoch tönten Stimmen, die sie beunruhigten. Sie dachte an die früheren Weihnachtsfeste. Noch vor einem Jahr hatte sie den heiligen Abend mit der Mama gefeiert; jetzt aber saß sie in einem Wirtshaus, und von nun an würde sie das Fest wohl immer unter fremden Menschen verbringen. Aber je mehr sie die Wirkung des Punsches fühlte und das laute Reden um sich her vernahm, desto sicherer wurde in ihr wieder das Gefühl, daß diese fremden Menschen ja freie Menschen seien und sie hoch über die Stufe erhöben, auf der sie sich noch vor einem Jahr befunden hatte. Man legte sich um elf Uhr zu Bett, um am anderen Morgen früh aufbrechen zu können.
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